Schmerz: Entstehung und körpereigene Schmerzmittel

Schmerz: Entstehung und körpereigene Schmerzmittel
Schmerz: Entstehung und körpereigene Schmerzmittel
 
Schmerzen sind immer Ausdruck des eigenen Befindens. Darin unterscheidet sich der Schmerz von den meisten anderen Wahrnehmungsarten. Durch Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten erfahren wir etwas über Objekte. Der Schmerz meldet uns nur den eigenen Zustand. Mit anderen Worten: Der Schmerz wird in der Wahrnehmung somatisiert, das heißt auf den Körper bezogen, und nicht objektiviert wie die meisten anderen Wahrnehmungen, die uns über Eigenschaften der Objekte informieren. Schmerzempfindungen sind somit unter den Wahrnehmungen etwas Besonderes. Der Schmerz spielt auch eine besondere Rolle im Gemütsleben der Menschen. Normalerweise meidet ein Mensch alles, was Schmerzen verursacht. Die Angst vor dem Schmerz ist den Menschen besser bekannt als die Schmerzempfindung selbst. Erwarteter Schmerz, zum Beispiel beim Zahnarzt, kann intensiver empfunden werden als die Schmerzen unvermuteter Verletzungen mit einer Nadel oder dem Küchenmesser, die sich oft erst einstellen, wenn man durch das Blut auf die Wunde aufmerksam wurde.
 
Die biologische Funktion der Schmerzen ist klar: Das Vermeiden von Schmerzreizen schützt den Körper vor Verletzungen. Nach Verletzun- gen wird wegen der erwarteten Schmerzen die Wunde geschützt und der verletzte Körperteil geschont, sodass der Schaden verheilen kann. Krankheiten, die sich im Frühstadium nicht durch Schmerzen bemerkbar machen, sind daher besonders gefährlich. Ein Beispiel dafür ist Krebs.
 
Weil Schmerzen stören und mitunter ganz unerträglich sind, haben die Menschen schon immer mit vielen Hausmitteln Abhilfe gesucht. Jede neue Erkenntnis der Neurobiologie wird heute auf ihre Verwendbarkeit für die Schmerzlinderung geprüft. Bei den meisten medizinischen schmerzlindernden Mitteln und Maßnahmen kennt man bis heute nicht die genaue wissenschaftliche Begründung ihrer Wirksamkeit.
 
 Neurobiologie und Psychophysik von Schmerzen
 
Reiz und Erregungsbildung, die zu Schmerzen führen, nennt man Nozizeption, was so viel bedeutet wie Registrierung eines Schadens. Die Ursache des Schmerzes liegt tatsächlich in der Schädigung des Zellgewebes. Die verletzten Zellen setzen im Gewebe Signalstoffe frei, auf die Nozizeptoren reagieren. Sie sind Sinnesnervenzellen mit freien Nervenendigungen, die in ungeheurer Dichte auftreten. Viele Gewebshormone und Neurotransmitter lösen Schmerzen aus, wenn sie in die Haut injiziert werden. Für einige dieser Stoffe fand man in der Zellmembran der Nozizeptoren spezialisierte Rezeptormoleküle. Das weit verbreitete Schmerzmittel Acetylsalicylsäure im Aspirin® und anderen Medikamenten wirkt, indem es unter anderem die Synthese eines beteiligten Gewebshormons chemisch blockiert. Die Nozizeptoren lassen sich nach der Leitungsgeschwindigkeit ihrer Fasern in zwei Gruppen einteilen. Die schnellen Aδ-Fasern melden mechanische und thermische nozizeptive Reize, die langsam leitenden C-Fasern reagieren auf alle Arten von Reizen, die das Gewebe schädigen. Die nozizeptiven Bahnen kreuzen im Rückenmark auf die Gegenseite. Sie sind bis ins Stammhirn hinein erforscht. Ihre Projektion auf die somatosensorische Großhirnrinde ist noch umstritten.
 
Die Schmerzen, die als Folge der Erregung von Nozizeptoren auftreten, lassen sich nicht leicht untersuchen, da sie sehr variabel sind. Ein Reiz, beispielsweise eine Stichverletzung mit einer Nadel, kann sehr unangenehm sein, aber auch unbemerkt bleiben. Bei Stress, im Kampf oder beim Sport, können schwere Verletzungen vorübergehend schmerzlos bleiben. Diese natürliche Veränderlichkeit der Schmerzintensität würde man gerne zur Unterdrückung von Schmerzen ausnutzen. Darum sind die Forschungsanstrengungen auf diesem Gebiet groß. Die physiologischen Hintergründe der schmerzstillenden Verfahren sind keineswegs alle aufgeklärt, auch wenn ihre Anwendung bereits Routine ist, wie die Narkose in vielen verschiedenen Formen oder die nicht bei allen Menschen funktionierende Akupunktur und die Hypnose.
 
Auch das aufmerksam studierte Schmerzerlebnis ist kompliziert. Die Hand kann kurz wehtun, wenn man sie in zu heißes Wasser getaucht hat. Wenige Sekunden danach, wenn sie sich schon wieder in Sicherheit befindet, kann ein zweiter, viel intensiverer Schmerz entstehen, der nur langsam abklingt. Den ersten und zweiten Schmerz kann man auch durch Zwicken der Haut auslösen. Der erste Schmerz ist kurz und hell, der zweite dumpf-brennend und anhaltend. Die beiden Schmerzqualitäten stehen möglicherweise mit den Aδ- beziehungsweise den C-Fasern in Verbindung.
 
Der Ursprung des Schmerzes lässt sich gut lokalisieren, sofern sich der Schaden in der Haut oder den Knochen befindet. Wenn der Schmerz sehr intensiv und anhaltend ist, wird die Lokalisierung ungenauer, und der schmerzende Körperteil wird größer. Entzündungen und Krämpfe von inneren Organen können erhebliche Schmerzen hervorrufen, die sich oft nicht richtig lokalisieren lassen. Herzschmerzen werden häufig in den linken Arm projiziert, Schmerzen vom Zwerchfell in die Schulter. Meistens lokalisiert man den Eingeweideschmerz in dem Hautareal, dessen Nervenfasern ihre Erregung in das gleiche Rückenmarksegment einspeisen.
 
Genau messbar sind Hitzereize auf der Haut. Die Schmerzschwelle liegt bei einer Hauttemperatur von ungefähr 44ºC und ändert sich nicht, wenn der Wärmereiz fortdauert. Man gewöhnt sich also nicht an den Schmerzreiz, das heißt die Empfindlichkeit sinkt nicht durch einen Adaptationsprozess. Das wäre auch nicht zweckmäßig, weil hohe Temperaturen zu irreversible Schädigungen an den Proteinen der Zellen führen würden.
 
Die große Variabilität der Schmerzwahrnehmung kommt durch Erregungsmodulationen im Nervensystem zustande. In der aufsteigenden Nervenbahn zum Gehirn können andere somatosensorische Erregungen die von den Nozizeptoren kommende Erregung hemmen. Durch elektrische Reizung von Nerven in der Haut kann man diese Hemmung aktivieren und so den Schmerz lindern. Die Synapsen der aufsteigenden Bahnen im Rückenmark stehen außerdem unter der Kontrolle von absteigenden Bahnen, das heißt von Nervenzellen des Stammhirns, deren Nervenfasern im Rückenmark nach unten verlaufen. Diese absteigenden Fasern können die synaptische Übertragung der nozizeptiven Erregung auf Folgeneurone ebenfalls hemmen. Zur Schmerztherapie können diese Fasern über Elektroden elektrisch aktiviert werden. Dazu implantieren Ärzte Elektroden in das Stammhirn, wo sie bei Bedarf die absteigenden Bahnen reizen. In schweren Fällen von Dauerschmerz durchtrennen Ärzte sogar die aufsteigenden Bahnen des Rückenmarks, was für einige Zeit den Schmerz abstellen kann.
 
 Neuroaktive Peptide als körpereigene Schmerzmittel
 
Seit der Antike bemühen sich die Menschen darum, den Schmerz durch Arzneimittel zu bekämpfen. Das bis heute wichtigste Schmerzmittel für anhaltenden starken Dauerschmerz ist Morphin, das wichtigste Alkaloid des Opiums. Opiate können süchtig machen. Das zeigt sich an den von Mal zu Mal höheren Dosen, die notwendig sind, um den gewünschten psychischen Effekt zu erzeugen. Bei regelmäßiger und wohl dosierter Anwendung zur Schmerzlinderung kommt es dagegen weder zur Bewusstseinstrübung noch zur Abhängigkeit.
 
Seit den 1970er-Jahren verstehen die Forscher immer besser, warum Opiate wirksame Schmerzmittel sind. Sie entdeckten kleine körpereigene Proteine (Peptide), die dieselbe Funktion ausüben wie Morphin und andere Opiate. Diese neuroaktiven Peptide binden an Rezeptoren in der Zellmembran von Nervenzellen. Vier verschiedene Rezeptoren sind bereits bekannt. Das Schmerzmittel Naloxon® ist ein Antagonist (Gegenspieler) neuroaktiver Peptide, weil es diese von den Bindungsstellen der Membranproteine verdrängt. Die neuroaktiven Peptide gehören zu drei Familien. Für jede Familie gibt es ein Gen, mit dessen Hilfe in den Zellen große Proteinmoleküle, die Pro- oder Superhormone, hergestellt werden. Diese Vorläufermoleküle werden enzymatisch in mehrere verschiedene Peptide zerlegt. Das Proopiomelanocortin (POMC) besteht aus 265 Aminosäuren, Proenkephalin aus 267 und Prodynorphin aus 257 Aminosäuren. Die neuroaktiven Peptide und ihre Rezeptoren wurden bei Wirbeltieren nicht nur im Nervensystem nachgewiesen, sondern auch in vielen anderen Organen wie zum Beispiel dem Darm. Als Neuromodulatoren sind sie an der Regulation des absteigenden Kontrollsystems im Rückenmark beteiligt. Dieses System moduliert, wie schon erwähnt, die synaptischen Übertragungen in der aufsteigenden Bahn. An der erwähnten Hemmung der nozizeptiven Bahn durch andere somatosensorische Erregungen sind auch andere Peptide neuromodulatorisch beteiligt, zum Beispiel die Substanz P, die aus nur 11 Aminosäuren besteht.
 
Neben den vielen, hier nur angedeuteten Forschungserfolgen der Neurobiologie mit genetischen, biochemischen, pharmakologischen und neurophysiologischen Methoden und der großen Bedeutung der Schmerzforschung für die leidenden Menschen, beeindruckt auch die biologische Einsicht: Die pflanzlichen Opiate sind wirksam, weil sie im Nervensystem die Funktion dort vorhandener Stoffe ausüben. Die neuroaktiven Peptide haben neben der Schmerzkontrolle noch viele andere Funktionen. Darum sind auch die Wirkungen der pflanzlichen Opiate auf den Menschen sehr verschieden.
 
Prof. Dr. Christoph von Campenhausen, Mainz
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Somatosensorik: Wahrnehmung durch Sinneszellen der Haut und des Körperinnern

Universal-Lexikon. 2012.

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